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„Unser Gasproblem ist vor allem ein Transportproblem“

Der Ukraine-Krieg bedeutet auch für die deutsche Energiepolitik eine Zäsur. Zwar war der Anteil russischen Gases an den deutschen Importen schon vor dem 24. Februar 2022 rückläufig, aber das drohende Szenario eines Lieferstopps sorgt bei den Abnehmern für Unruhe. Dr. Gabriele Widmann, Energieexpertin der Deka, über die Herausforderungen bei der Suche nach Alternativen und die Auswirkungen auf Unternehmen und private Verbraucher.


August 2022

Interview mit Dr. Gabriele Widmann von der Deka


Frau Dr. Widmann, nach einigem Hin und Her fließt wieder Gas aus Russland durch die wichtige Pipeline Nord Stream 1 nach Deutschland. Aktuell belaufen sich die Lieferungen aber nur auf rund 20 Prozent der üblichen Menge. Wird es damit gelingen, die Gasspeicher rechtzeitig vor Wintereinbruch zu füllen, oder ist die Sicherheit der Gasversorgung in Deutschland gefährdet?

Man muss diese beiden Aspekte – die Gasspeicher und die Sicherheit der Gasversorgung – tatsächlich trennen. Jetzt, Mitte August, sind die Gasspeicher zu etwa 70 Prozent gefüllt, das ist für die Jahreszeit völlig in Ordnung. Die aktuellen Füllstände liegen teilweise über dem Niveau früherer Jahre. Das spricht dafür, dass wir das Ziel eines Füllstandes von 95 Prozent bis Anfang November erreichen können. Was aber niemand sagen kann, ist, ob das Gas in der gewohnten Menge weiterfließt. Die russische Seite begründet die niedrigere Gasliefermenge ja mit technischen Problemen, während die deutsche Seite eher politischen Druck vermutet. Dabei sagt die Frage, ob die Gasspeicher rechtzeitig gefüllt sind, nur wenig darüber aus, ob wir im Winter in kalten Wohnungen sitzen werden.

Warum das? Spielen die Gasspeicher nicht eine zentrale Rolle?

Der Gasverbrauch ist im Winter deutlich höher als im Sommer. Die Gasreserven in den Speichern dienen vor allem dazu, die zusätzliche Nachfrage im Winter zu decken. Aber für eine ausreichende Gasversorgung insgesamt sind wir eben auch weiterhin auf feste Gaslieferungen angewiesen, sonst wird es knapp.

Deutschland ist also auch nicht aus dem Schneider, wenn die geplanten Füllstände realisiert werden können?

Nein – für sich genommen würden die Gasreserven ungefähr bis Weihnachten reichen. Und ein Strecken der vorhandenen Gasmenge, etwa durch eine niedrigere Durchleitungsmenge, bringt auch nichts und schafft im Gegenteil neue Probleme, beispielsweise wenn sich Heizungen bei zu niedrigem Gasdruck abschalten.

„Unser Gasproblem in Deutschland ist also vor allem ein Transport- und Infrastrukturproblem und weniger ein Problem der generellen Verfügbarkeit des Rohstoffs“

Dr. Gabriele Widmann, Energieexpertin der Deka

Also braucht Deutschland Gas aus anderen Quellen. Das scheint aber nicht so einfach zu sein?

Grundsätzlich gibt es weltweit ausreichend Gasreserven. Russland hat im vergangenen Jahr rund 700 Milliarden Kubikmeter Gas produziert, das sind rund 17 Prozent der weltweiten Produktionsmenge. In die EU gingen 2021 davon rund 155 Milliarden Kubikmeter. Der Anteil der USA an der Produktion lag mit 930 Milliarden Kubikmeter deutlich darüber. Aber auch die Golfstaaten, der Iran, Algerien oder China produzieren jährlich weit über 100 Milliarden Kubikmeter. Es wäre also rein mengenmäßig genug Gas vorhanden. Die Herausforderung besteht jetzt darin, das Gas zum richtigen Zeitpunkt an den richtigen Ort zu transportieren. Gas kann, im Gegensatz zu Öl, ja nicht einfach in Fässer abgefüllt und auf Frachter verladen werden. Dazu muss es erst mit hohem Aufwand verflüssigt und am Zielort wieder verdampft werden. Deshalb spielen Pipelines bei der Gasversorgung eine zentrale Rolle: Es ist einfacher und auch kostengünstiger, wenn das Gas direkt von den Förderfeldern zum Zielmarkt gepumpt werden kann. Auch damit ist sicher die hohe Verbreitung des russischen Gases zumindest teilweise zu erklären: Es ist einfacher, eine Pipeline über Land zu bauen, als etwa durch das Mittelmeer. Unser Gasproblem in Deutschland ist also vor allem ein Transport- und Infrastrukturproblem und weniger ein Problem der generellen Verfügbarkeit des Rohstoffs.

Welche Möglichkeiten hat Deutschland in der jetzigen Situation?

Wir verfügen in Deutschland über ein dichtes Pipelinenetz, da ein Teil der Gaslieferungen in andere europäische Länder weitergeleitet wird. Dieses Netz kann natürlich auch in der umgekehrten Richtung befüllt werden, etwa, wenn wir Erdgas aus Algerien über Spanien beziehen. Die große Hoffnung ruht im Moment vor allem auf Flüssiggas, auch LNG genannt, aus dem Nahen Osten und insbesondere aus den USA. Allerdings braucht man in diesem Fall für die schon genannte Verdampfung des flüssigen Gases spezielle Anlagen, und die gibt es in Deutschland bislang noch nicht. Deutschland arbeitet gerade mit Hochdruck daran, bis zum Winter in Wilhelmshaven und in Brunsbüttel erste schwimmende LNG-Terminals zu errichten. Die Nachfrage nach solchen Anlagen ist weltweit im Moment natürlich groß, deswegen gibt es auch hier gerade einen Lieferengpass. In den nächsten Jahren sind weitere schwimmende und feste Anlagen geplant. Bis zur Fertigstellung der deutschen Terminals kommt das Flüssiggas aktuell vor allem durch Belgien und die Niederlande nach Deutschland.

Was kommt auf die Deutschen und die deutsche Wirtschaft zu, sollte die über Russland oder aus alternativen Quellen gelieferte Gasmenge nicht ausreichen?

Tatsächlich erwarten wir erst ab 2024 wieder eine Entspannung bei der Gasversorgung. Denn wenn aus Russland weiterhin so wenig Gas kommt wie in den letzten Monaten, dürfte es schwer werden, 2023 die Gasspeicher ausreichend aufzufüllen. Unter Umständen haben wir daher auch einen zweiten schwierigen Winter vor uns. Auf der anderen Seite gibt es beim Gasverbrauch auch noch Einsparpotenzial. Rund 12 Prozent des Gases werden zur Verstromung genutzt. Das lässt sich, zumindest teilweise, durch andere Energiequellen ersetzen. Vor diesem Hintergrund ist auch die aktuelle Diskussion um die Atomenergie zu sehen.

Bei der Wirtschaft sehen wir jetzt, dass Unternehmen wie BASF oder die deutschen Autobauer erfolgreich nach Alternativen bei der Gaslieferung suchen und teilweise auch ihre Prozesse umstellen können. Das braucht sicher Zeit, auch wegen des Mangels an einzelnen Bauteilen, aber es geht. Die Bundesnetzagentur hat eine Plattform aufgebaut, über die Unternehmen Gasmengen, die sie zu einem bestimmten Zeitpunkt nicht selber abrufen, zur Verfügung stellen können und umgekehrt auch Gasmengen abrufen können. Für Unternehmen lohnt es sich jetzt, Gas einzusparen. Insofern könnten die Auswirkungen für die Wirtschaft insgesamt weniger drastisch ausfallen, als noch im März befürchtet. Und ab 2024 sollten wir dann weitestgehend vom russischen Gas unabhängig sein.

Vielen Dank für das Gespräch, Frau Dr. Widmann.

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