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Research und Märkte

Jahrhundertkrise am Bau?

Hohe Zinsen und gestiegene Materialkosten machen Baufirmen und Handwerksbetrieben zu schaffen. Weil zahlreiche Gewerbe- und Wohnprojekte gestoppt werden, brechen der Branche in Deutschland die Aufträge weg. Doch bei der Sanierung von Bestandsimmobilien, aber auch in der Infrastruktur gibt es weltweit gesehen weiter große Wachstumschancen.

Oktober 2023

Sand, wohin das Auge reicht, und ein großes Loch – das sehen Zugreisende im Vorbeifahren, wenn sie Düsseldorf in Richtung Norden verlassen. Auf dem Gelände des ehemaligen Postverteilzentrums nahe dem Hauptbahnhof sollten in diesem Herbst eigentlich erste Wohnungen und Bürogebäude zu erkennen sein – zumindest im Rohbau. Doch das größte Wohnungsbauprojekt der nordrhein-westfälischen Landeshauptstadt stockt seit Monaten. Die Adler-Gruppe, die das Projekt verantwortet, ist in Schieflage geraten.

Auch ein paar Hundert Meter weiter, an der ehrwürdigen Königsallee, klafft eine Baulücke. Ob dort, direkt am Prachtboulevard, wie geplant im kommenden Jahr ein Geschäfts- und Bürokomplex entsteht, ist momentan fraglich. Der Initiator, die Centrum-Gruppe, musste hierfür Ende September Insolvenz anmelden. Knapp 250 Kilometer südlich, in Offenbach, liegt eine andere Baustelle, die ruht. In der Nachbarkommune der Bankenmetropole Frankfurt hat die Leipziger Quarterback-Gruppe von sich aus die Notbremse bei ihrem Leuchtturmprojekt „Berliner Höfe“ gezogen. Gebaut werden soll erst nach einer Anpassung der Pläne an die veränderten Marktbedingungen.

So wie in Offenbach und Düsseldorf liegen derzeit in nahezu allen deutschen Metropolen große gewerbliche Immobilienvorhaben auf Eis. Viele Projektentwickler stecken in finanziellen Schwierigkeiten oder sind bereits in die Pleite gerutscht – auch einige große, renommierte Namen. Die stark gestiegenen Zinsen und rasante Preissprünge bei Energie und Baumaterialien machen der Branche zu schaffen. Die schwache Konjunktur bremst zudem die Nachfrage nach gewerblichen Flächen. Zusätzlich bestellen Verbraucherinnen und Verbraucher nach den Erfahrungen der Lockdowns mehr und mehr von zu Hause aus. Auch der Trend zum Homeoffice ist ungebrochen.

Preise bei Gewerbeimmobilien sinken.

Nach Zahlen der Nachrichtenagentur Bloomberg steckt der europäische Markt für Gewerbeimmobilien in einer ausgeprägten Korrektur. Der Immobilienindex von MSCI, der die Wertentwicklung von direkt gehaltenen Gewerbeimmobilien von einer Bewertung zur nächsten abbildet, zeigt für ganz Europa im ersten Quartal einen Rückgang von knapp 11 Prozent. In Großbritannien beträgt der Wertverfall gar 16 Prozent.

Viele Entwickler und Investierende warten daher auf eine Erholung und halten sich mit Verkäufen und neuen Projekten zurück. Nach einer Auswertung des Immobiliendienstleisters Cushman & Wakefield ist das Transaktionsvolumen bei Gewerbeimmobilien allein in den sieben deutschen Top-Metropolen im ersten Halbjahr gegenüber dem Vorjahreszeitraum um 65 Prozent auf 9,8 Milliarden Euro zurückgegangen. Nach Angaben des Spezialisten ist das das schwächste Halbjahr seit 2012. „Das Umfeld für Gewerbeimmobilieneigentümer ist aktuell sehr herausfordernd“, lautete bereits im Frühjahr das Fazit der Immobilienexpertinnen und -experten des ifo Instituts in einer Studie zur Mietpreisentwicklung auf dem Gewerbeimmobilienmarkt.

Hohe Zinsen wirken mit Verzögerung.

Auch bei Wohnimmobilien verunsichert ein starker Preisrückgang Investorinnen und Investoren. Nach Daten des Statistischen Bundesamtes sanken die Preise für Wohnimmobilien im zweiten Quartal durchschnittlich um fast zehn Prozent gegenüber dem entsprechenden Vorjahresquartal. „Der zweifellos starke Rückgang relativiert sich jedoch vor dem Hintergrund, dass die Preise in den vergangenen zehn Jahren sehr stark gestiegen sind“, ordnet Andreas Wellstein, Senior Immobilienanalyst bei der Deka, den Rücksetzer am Immobilienmarkt ein.

Doch warum fallen Preise trotz Wohnungsmangel in Deutschland? „Die hohen Zinsen kommen erst mit Verzögerung am Bestandsmarkt an“, erläutert er. Gerade dieser Umstand hat jedoch viele Bauherren kalt erwischt. Sie müssen die Reißleine ziehen, weil ihnen das Geld auszugehen droht. Die Stornierungen im Wohnungsbau türmen sich laut ifo Institut inzwischen zu einem Höchststand auf. Im August gab mehr als ein Fünftel der vom Institut befragten Baufirmen an, dass Aufträge gekappt worden seien. Knapp 45 Prozent meldeten fehlende Neuaufträge. Der Bausektor erlebt nach deren Einschätzung einen bislang nie gekannten Einbruch.

In der Baubranche herrscht daher Alarmstimmung. „Wir fahren mit hohem Tempo auf eine Mauer zu“, warnte Handwerkspräsident Jörg Dittrich Mitte September vor einem Kollaps aufgrund einbrechender Nachfrage. Nach Wirtschaftsleistung betrachtet, ist der Bausektor größer als die hiesige Automobilindustrie und eine Schlüsselbranche für das mittelständische Handwerk.

14-Punkte-Plan der Regierung.

Noch arbeiten die Betriebe Projekte ab, die vor mehreren Jahren beschlossen und finanziert worden sind. Aber die Aussichten für zukünftige Neubauten sind mau. Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes wurden im ersten Halbjahr 2023 in Deutschland 135.200 Wohnungen genehmigt – ein Rückgang von über 50.000 Stück gegenüber dem Vorjahreszeitraum. Auf dem Baugipfel im September hat Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) daher versprochen, ein 14-Punkte-Programm auf den Weg zu bringen, um die Nachfrage anzukurbeln. Es sieht unter anderem Steuervorteile, Fördergelder und schnellere Baugenehmigungen vor. Parallel dazu hat Bundesbauministerin Klara Geywitz (SPD) ein zusätzliches Förderprogramm angekündigt, das Bauen und Modernisieren im Bestand für Immobilieninteressierte lukrativer machen soll.

„Der Plan der Bundesregierung hat viele gute Ansätze, aber der ganz große Wurf ist es nicht“, sagt Wellstein. Er hält eine schnellere Ausweisung von Bauland und die Idee des seriellen Bauens für geeigneter, um mehr Tempo zu machen und die Bauwirtschaft anzukurbeln. Das Prinzip dabei: Ist ein Haustyp einmal genehmigt, müssen die Bauherren die Anträge nicht noch einmal neu stellen. Das spart Kosten, und das mühsame Durcharbeiten von Bauvorschriften, die zudem von Bundesland zu Bundesland variieren, entfällt.

30 Millionen Gebäude vor Sanierung.

Die derzeit düsteren Perspektiven für die Bauwirtschaft könnten sich bald jedoch schon wieder aus anderer Richtung aufhellen. Zahlreiche Bestandsobjekte, gerade in den Städten, haben großen energetischen Sanierungsbedarf. Nach Plänen der Europäischen Kommission sollen Wohngebäude bis zum Jahr 2030 mindestens die Energieeffizienzklasse E und bis 2033 die Energieeffizienzklasse D erreichen. Nach Angaben der Kommission sind allein bei einer Sanierung von der schlechtesten Stufe G auf F etwa 30 Millionen Gebäude in der Europäischen Union betroffen. Damit tut sich für Handwerksbetriebe und Bauspezialisten ein riesiger Markt auf, mit dem sich Auftragslücken beim Neubau auffangen lassen.
Deka-Immobilienexperte Wellstein sieht zudem einen weiteren Hoffnungsschimmer: „Die Konsolidierung bei der Preisentwicklung wird wohl noch bis zum Jahresende anhalten. Dann dürfte es jedoch langsam wieder bergauf gehen“, prognostiziert er. Für strategisch orientierte Immobilien-Anlegerinnen und -Anleger ergeben sich in der aktuellen Schwächephase somit Einstiegschancen.

Gute Wachstumschancen bei Bauunternehmen.

Joachim Schallmayer, Leiter Kapitalmarkt und Strategie bei der Deka, richtet zudem seinen Blick auf die Aktien der Baubranche. „Der Wachstumsausblick in den Bereichen Infrastruktur, Energie und Versorgung verbessert sich weltweit gesehen stetig. Die Auftragseingänge nehmen hier zu. Mit etwas geringerer Dynamik gilt das auch für den Bereich der Industrie“, beobachtet der Anlagestratege. Allein in Deutschland müssen laut einer aktuellen Studie des Deutschen Instituts für Urbanistik bis zum Jahr 2030 über 380 Milliarden Euro für den Erhalt und die Erweiterung des kommunalen Verkehrsnetzes investiert werden. Fast jede zweite Straßenbrücke ist in einem sanierungsbedürftigen Zustand. Ein Drittel der Straßen weist der Studie zufolge zudem „größere Mängel“ auf.

Für Aktien im Bausektor sieht Deka-Experte Schallmayer vor diesem Hintergrund gute Chancen. „Anlegerinnen und Anleger müssten aber aktiv zwischen Unternehmen selektieren, um damit in den richtigen Regionen und Endmärkten engagiert zu sein. Das ist schwer und eine Aufgabe für Profis. Zudem gilt es, die Firmen herauszupicken, denen eine gute und profitable Ausführung der Aufträge zuzutrauen ist, und potenzielle Pleitekandidaten zu meiden.“

Quelle: fondsmagazin

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