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Kaum Zeit für Europas Sicherheit.
In punkto Sicherheit habe Europa viel verschlafen. Ohne die USA sei man erst in zehn bis 15 Jahren alleine verteidigungsfähig, warnt Dr. Pia Fuhrhop, Forschungsgruppenleiterin für Sicherheitspolitik der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP). Man müsse heute und nicht erst morgen gemeinsam mehr in die Abschreckung investieren.
Lesen Sie hier das vollständige Interview aus der "Invest." Ausgabe 3/2025, dem Magazin von IQAM Invest.
November 2025
Interview mit Dr. Pia Fuhrhop, Forschungsgruppenleiterin für Sicherheitspolitik der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP).
Laut Friedensforschungsinstitut SIPRI sind die weltweiten Verteidigungsausgaben 2024 um 9,4 Prozent auf mehr als 2,7 Billionen US-Dollar gestiegen. Besorgt Sie das?
Auf jeden Fall, vor allem, weil es der stärkste jährliche Anstieg der Militärausgaben seit 1988 ist. Alarmierend ist auch, dass es Zuwächse in allen Weltregionen gibt.
Warum wird trotz leerer Staatskassen so viel Geld für Rüstung ausgegeben?
Die Staaten haben nicht mehr den Eindruck, dass sie auf eine friedliche Konfliktlösung setzen können, wappnen sich mit militärischen Kapazitäten. Das ist ein Indikator für eine starke Veränderung der liberalen Weltordnung, die auf Diplomatie gesetzt hat, mit kodifizierten Regeln im Rahmen der Vereinten Nationen. Die hohen Militärausgaben erklären sich auch daraus, dass viele Staaten ihre Streitkräfte gerade neu aufstellen und mit neuen Technologien ausstatten. Auch der Wettbewerb zwischen China und den USA treibt die weltweiten Rüstungsausgaben und Kosten hoch, so modernisieren gerade beide ihr extrem teures Arsenal von Nuklearwaffen.
Wie wirkt sich eine derart veränderte Weltordnung auf das NATO-Bündnis aus?
Man wird sich wieder auf den euro-atlantischen Raum und Europa im Besonderen konzentrieren. Die Landes- und Bündnisverteidigung sowie die Abschreckung gegenüber Russland ist das zentrale Ziel der Zusammenarbeit in der NATO und nicht mehr das globale Engagement. Die zweite Auswirkung, die mit Sicherheit die NATO in den nächsten Jahren stark verändern wird, ist, dass diese und auch nachfolgende US-Administrationen auf eine andere Lastenteilung im Bündnis drängen, weil die USA ihre zentralen Sicherheitsinteressen eben nicht mehr europäisch definieren, sondern mit Blick auf China und den Pazifik. Bei der Trump-Administration kommt sogar der Einsatz des Militärs für Homeland Security, die Bekämpfung vermeintlicher Terroristen und von Drogenkartellen hinzu. Damit muss sich die NATO verändern, damit sie Bestand hat, nämlich nur mit einem stärkeren europäischen Beitrag.
Sollte sich Europa nicht besser gleich mehr auf die Europäische Sicherheitsunion fokussieren?
Es gibt aus meiner Sicht im Moment eher eine Zustimmung dafür, dass die NATO für die kollektive Verteidigung Europas relevant bleibt und die EU ihre finanziellen und regulatorischen Möglichkeiten in den Dienst der Mitgliedstaaten stellt, sodass die ihre NATO-Verpflichtungen erfüllen können. Aber Europa zielt gerade nicht auf eine weitere europäische Integration der Verteidigung, denn wir haben nur wenig Zeit, eine wirksame Abschreckung aufzubauen.
Gegen wen muss sich Europa wirksamer verteidigen?
Europa muss zunächst die Fähigkeit zur Abschreckung von Russland wiedererlangen, noch vor der Verteidigung. Der russische Angriff auf die Ukraine zeigt den enormen Willen der russischen Führung, ihre imperialen Vorstellungen mit militärischer Gewalt durchzusetzen. Russland hat bis zu 250.000 Tote und Versehrte zu beklagen und enorme ökonomische Kosten in Kauf genommen ohne sein Kriegsziel, die Ukraine ganz einzunehmen, erreicht zu haben. Es ist also nicht auszuschließen, dass Russland auch die bereits geäußerten weitergehenden Vorstellungen zur Dominanz in Europa militärisch durchsetzen will. Daher muss Europa klar machen, dass es im Zweifelsfall auch Willens und in der Lage wäre, sich zu verteidigen.
Woran fehlt es Europa für eine wirksame Abschreckung?
Zum einen sind die Streitkräfte unterdimensioniert. Die will die NATO personell aufstocken, damit Europa in der Lage wäre, in kurzer Zeit einsatzfähige Truppen an die Ostflanke zu schicken, aber auch, um Verstärkung aus eigenen Kräften zu organisieren. Personell sind die meisten Armeen stark geschrumpft. Daher auch die vielen Diskussionen um die Wehrpflicht. Beim Material fehlt es an allem, zumal die USA nicht mehr in dem Maße bereit sind, hier Ausrüstung für die Verteidigung Europas bereitzustellen. Da geht es um verhältnismäßig banale Dinge wie Munitionsvorräte, aber auch um kritische militärische Schlüsselfähigkeiten: Kommunikation, Aufklärung und Kommandostrukturen. Hier sind besonders hohe Investitionen notwendig, aber auch in neuere Technologien wie Drohnen oder elektronische Kampfführung.
Gibt es Berechnungen, wie viel es kostet, damit Europa das Bündnisziel, fünf Prozent seines BIP in die Verteidigung zu stecken, auch erfüllt?
Die fünf Prozent sollen erst in zehn Jahren erreicht werden und wir wissen nicht, wie sich bis dahin das BIP dieser 32 NATO-Mitgliedstaaten entwickelt. Ein guter Indikator für die EU-Militärausgaben ist das Ziel der EU-Kommission, in den nächsten fünf Jahren 800 Milliarden Euro bereitzustellen: 650 Milliarden Euro durch Ausgaben der Mitgliedstaaten und 150 Milliarden Euro durch Kredite der Europäischen Union. Ein Hinweis sind auch Aussagen des deutschen Kanzlers Friedrich Merz, wonach jeder Prozentpunkt BIP in Deutschland Mehrausgaben von ungefähr 45 Milliarden pro Jahr bedeutet.
Dr. Pia Fuhrhop
ist Leiterin der Forschungsgruppe Sicherheitspolitik an der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin. Bis 2021 leitete die an der Freien Universität Berlin promovierte Wissenschaftlerin das Berliner Büro des Instituts für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg. Zuvor hat sie viele Jahre als Beraterin für Außen- und Sicherheitspolitik im Bundestag gearbeitet.
Hat Europas Verteidigungsindustrie dafür genügend Kapazitäten?
Besonders ausgeprägt ist die Abhängigkeit von den USA im Luft- und Raumfahrtsektor. Das liegt daran, dass wir die Flugzeuge der letzten Generation vor allem in den USA kaufen wie den Kampfjet F-35. Besonders abhängig sind wir auch bei Langstreckenwaffen, weniger abhängig im maritimen Bereich und bei Landfahrzeugen. Jetzt muss Europa schauen, dass es vorankommt und Schlüsseltechnologien auf EU-Ebene festlegen. Bei diesen braucht es wegen des großen finanziellen Aufwands mehr europäische Kooperationen. Dazu sind europäische Staaten zunehmend bereit. Im europäischen Rahmen gibt es zum Beispiel eine Initiative, gemeinsam weitreichende Präzisionswaffen zu entwickeln. Die EU hat erfolgreich den Einkauf von Artilleriemunition in großen Stückzahlen koordiniert. Es gibt Einkaufskoalitionen etwa von Deutschland mit kleineren Nationen für die Anschaffung von Leopard-Panzern. Aber ein Problem bleibt. Gerade große Produzenten wollen ihre eigenen Wehrindustrien protegieren. Diesen Nationalismus muss Europa so gut es geht überwinden.
Kann die Beistandspflicht nach Artikel 5 des NATO-Vertrags in Europa noch erfüllt werden, wenn die USA wie angekündigt ihre Truppen 2027 in Richtung Indopazifik verlagern?
Dass sie alle 80.000 US-Soldaten aus Europa abziehen, halte ich nicht für realistisch. Aber es würde Europas Verteidigungsfähigkeit empfindlich treffen, wenn die USA in militärische Schlüsselfähigkeiten nicht oder weniger Verstärkung stellen. Die meisten Studien sagen, dass es zehn bis 15 Jahre dauern wird, bis sich Europa selbst verteidigen kann. Tatsache ist aber auch, dass selbst die Trump-Administration die Beistandspflicht nicht in Zweifel zieht, aber Europas Vertrauen in die USA ist sicher erschüttert.
Hat Europa in punkto Sicherheit einiges verschlafen?
Ich denke, dass wir nach dem ersten russischen Angriff auf die Krim und die Ostukraine 2014 nicht konsequent genug eine Antwort auf diese zentrale Bedrohung für die europäische Sicherheit und auf diese militärischen Fähigkeiten Russlands gesucht haben. Vor allem nicht für die Luftverteidigung. Das betrifft nicht nur Drohnen, sondern auch die russischen Raketenarsenale. Gleichwohl gibt es in Europa sehr viel technologische Forschung zu Drohnen und Drohnenabwehr, oft auch von Start-ups, die es schwieriger haben, in diesem schwerfälligen Beschaffungssystem zum Zug zu kommen. Heikel sind auch die vielen russischen Angriffe hybrider Natur: Desinformation, Spionage und Angriffe auf zivile Infrastruktur. Wir können unsere Resilienz stärken, aber wir müssen als offene, demokratische Gesellschaft eine bestimmte Verwundbarkeit akzeptieren. Resilienz ist aber selbst bei kollektiver Entscheidungsfindung nicht unmöglich. Nehmen wir das Durchschneiden von Unterseekabeln in der Ostsee durch zivile Schiffe, vermutlich mit russischer Besatzung. In der Folge hat die NATO die Baltic Sentry-Mission zur See im Jänner 2025 ins Leben gerufen. Seitdem wurde kein Kabel mehr durchschnitten. Wir sind dem allen also nicht schutzlos ausgeliefert.
Quelle:
Invest., Nr. 3 / 2025, Das Magazin von IQAM Invest
1 Bildnachweise: Porträt Pia Fuhrhop, © Peter Himsel
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