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Zeitenwende in der Industrie: „Eine große Chance für Deutschland und Europa“
Zwischen Meldungen über Stellenabbau, schwächelnde Industrie und eine vermeintliche Abwärtsspirale der deutschen Wirtschaft könnte leicht der Eindruck eines Landes im Niedergang entstehen. Doch dieses Bild greift laut Dr. Herbert Diess, Aufsichtsratsvorsitzender der Infineon Technologies AG und Verwaltungsratsvorsitzender von The Mobility House, zu kurz: „Die Zeitenwende ist real – aber sie ist eine große Chance für Deutschland. Ob Automobilindustrie, Energie, Europa oder KI: Mit Mut zu Reformen und technologischer Offenheit bietet sich die Gelegenheit, gestärkt aus dem Wandel hervorzugehen.“
Dezember 2025
Per Ende September arbeiteten in der deutschen Industrie laut dem Statistischen Bundesamt ca. 5,43 Millionen Menschen und damit 2,2 Prozent weniger als noch vor einem Jahr. Die Automobilindustrie zählte dabei zum Ende des dritten Quartals 721.400 Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und damit so wenig wie seit Mitte 2011 nicht mehr. Diese und ähnliche Nachrichten dominieren in diesen Wochen die Berichterstattung. Dabei sei lange nicht alles so schlimm, wie es auf den ersten Blick wirke, macht Dr. Herbert Diess, Aufsichtsratsvorsitzender der Infineon Technologies AG und Verwaltungsratsvorsitzender von The Mobility House, Mut. Stattdessen bestünden inmitten der Zeitenwende, die Deutschland derzeit erlebt, auch große Chancen. Insbesondere bei den Schlüsselthemen Industrie, Politik und Technologie sieht er viel Potential.
Auch wenn die öffentliche Debatte die deutsche Industrie derzeit gern im Krisenmodus sieht, habe beispielsweise die Automobilbranche schon gravierendere Umbrüche erlebt: So wurde Mitte der 1990er-Jahre der Aufstieg japanischer Hersteller in Europa als existenzielle Bedrohung wahrgenommen. Doch anstatt, dass die gesamte westliche Industrie ausstarb, hat sich die deutsche Automobilbranche erfolgreich angepasst und damit über Jahrzehnte enormen Erfolg gehabt. Zudem stellten die vergangenen 20 Jahre eine konjunkturelle Ausnahmesituation dar, die ganz massiv von einem „China-Effekt“ getragen wurde. Der massive Ausbau des chinesischen Automobilmarkts habe deutschen Herstellern zweistellige Margen beschert, die ohne diesen Boom nicht denkbar gewesen wären. „BMW hat in den frühen 2000er Jahren Gewinnmargen von 3-4 Prozent erzielt. Mit der heutigen Situation sind wir wieder in den Normalzustand vor dem China-Boom zurückgekehrt. Auch wenn das selbstverständlich für die Betroffenen nicht angenehm ist, bedeutet es jedoch noch lange nicht das Ende der gesamten deutschen Automobilindustrie“, so Diess. frastruktur.
„Es wurden in den vergangenen 20 Jahren unter konservativen Regierungen in Deutschland keine nennenswerten Reformen umgesetzt.“
Aufsichtsratsvorsitzender Infineon Technologies AG und Verwaltungsratsvorsitzender The Mobility House.
Trotz Herausforderungen gibt es Lichtblicke für die Industrie.
Denn die Lage der deutschen Industrie werde vor allem im globalen Vergleich zu pessimistisch dargestellt. So hätten sich etwa US-Hersteller größtenteils auf ihren Heimatmarkt zurückgezogen, während in Japan Nissan erneut mit einem drohenden Konkurs zu kämpfen habe. Auch Tesla stehe weniger glänzend da, als es die Börsenbewertung suggeriere, die mit dem stagnierenden Autogeschäft wenig zu tun habe. Vor allem jedoch herrscht in China, dem derzeit größten Konkurrenten, ein Blutbad, so Diess: „Kaum ein Hersteller verdient tatsächlich Geld. Stattdessen beobachten wir extreme Preiskämpfe, einbrechende Wachstumsstorys und halbierte Börsenbewertungen. Und in Europa halten deutsche Autohersteller bei Elektroautos einen Marktanteil von rund 27 Prozent – und damit in etwa so viel wie bei Verbrennern. Vor diesem Hintergrund ist es definitiv verfrüht, einen Abgesang auf die deutsche Industrie anzustimmen.“ Auch Protektionismus sei in der Branche nichts Neues, betont Diess. Da die Automobilindustrie ca. zehnmal größer sei als die Smartphone-Industrie, ist sie aufgrund ihrer enormen Wertschöpfung und ihrer Bedeutung für das Bruttosozialprodukt schon immer stark reguliert gewesen.
Dies müsse man bedenken, wenn man die Politik Donald Trumps bewerte. Tatsächlich sieht Diess auch Potential für Deutschland und Europa in dessen Politik. Diese sei zwar unbequem – aber sie offenbare auch grundlegende Realitäten: Die USA seien nie an einem starken, geeinten Europa interessiert gewesen. Trump mache das lediglich sichtbarer. Hier liegt für Diess eine große Chance: „Es wird aktuell deutlich, dass Europa ein Muss ist. Einzelne Staaten haben global keine Durchsetzungskraft mehr. Ich hoffe, dass Donald Trump der Ausgangspunkt für eine neue Dynamik in der Zusammenarbeit in Europa wird und wir es schaffen, unsere europäischen Interessen stärker zu konsolidieren. Als drittgrößte Volkswirtschaft der Welt muss Deutschland hier eine aktivere Führungsrolle übernehmen.“
Deutschland braucht Reformen.
Doch während Deutschland sich einerseits stärker europäisch engagieren sollte, müsse es andererseits gleichzeitig eigene Strukturprobleme angehen. Diess sieht vor allem Herausforderungen mit Blick auf die demografische Entwicklung, das Fehlen grundlegender Reformen und einen dringend nötigen Bürokratieabbau. „Es wurden in den vergangenen 20 Jahren unter konservativen Regierungen in Deutschland keine nennenswerten Reformen umgesetzt. Zuletzt hat sich hier Gerhard Schröder verdient gemacht.“ Dabei brauche Deutschland dringend einen Abbau der überbordenden Verwaltung, Reformen der Sozialsysteme und flexiblere Beschäftigungsmodelle. „Ich könnte mir beispielsweise eine Reduzierung der Bundesländer vorstellen. Die aktuelle Koalition sollte in der Lage sein, große Reformen anzugehen, denn traditionell kann vor allem die SPD aufgrund ihres Rückhalts in den Gewerkschaften Reformen umsetzen und Friedrich Merz wirkt auf mich gewillt, Deutschland fit für die Zukunft zu machen. Es gibt auch keine Alternative: Wenn es nicht gelingt, das Ruder jetzt herumzureißen, droht ein politischer Machtwechsel, bei dem die AfD aus den nächsten Wahlen als stärkste Kraft hervorgeht.“
Dabei sei die Ausgangslage für den Erfolg von Reformen sehr gut, betont Diess: „Wir haben eine gutes Ökosystem in Deutschland mit einer der größten Start-up-Szenen Europas, exzellenten Hochschulen und einem guten Ausbildungssystem. Wir verfügen über eine hochqualifizierte junge Generation, die auch bereit ist, sich einzubringen und Lust hat zu arbeiten.“ Dies müsse man nutzen und die Transformation des Landes angehen. Dafür sollte auch stärker auf kleine Unternehmen, Disruptoren und Start-Ups gesetzt werden, da mit ihnen Veränderung deutlich schneller vorangetrieben werden könne, als mit großen Konzernen.
Erneuerbare Energien: Die Fakten sprechen eine klare Sprache.
So etwa beim Thema Erneuerbare Energien. Hier sei es schlichtweg unsinnig, dass die Bundesregierung neue Gaskraftwerke in Betrieb nehmen wolle. Stattdessen seien erneuerbare Energien, wie etwa Solarenergie, alternativlos, betont Diess: „80-90 Prozent der weltweit neu geschaffenen Energiekapazitäten sind erneuerbar. Gleichzeitig sinken die Stromkosten dort am schnellsten, wo am stärksten auf nachhaltige Stromerzeugung gesetzt wird.“ Der Verlust der deutschen Solarindustrie dürfe nicht dazu führen, dass man sich der Technologie entgegenstelle, denn die Kosten für Solarenergie haben sich innerhalb eines Jahrzehnts dramatisch verbilligt. Strom aus Photovoltaik koste selbst in Deutschland mit Speicher nur noch rund acht Cent pro kWh. Im Vergleich dazu kostet in Frankreich Strom, der mit alten Atomkraftwerken produziert wird, etwa sieben Cent pro kWh während es bei neuen Kernkraftwerken sogar 14 Cent pro kWh sind. „In Deutschland hält sich hartnäckig der Mythos, dass der Ausstieg aus der Atomkraft und der Ausbau der Erneuerbaren dafür gesorgt habe, dass Strom so teuer geworden ist. Mit der Realität hat dieses Narrativ nichts zu tun. Stattdessen haben wir das strukturelle Problem, dass Netzentgelte rund die Hälfte der Stromkosten ausmachen, weil wir 860 Netzbetreiber haben und uns hier immens ineffiziente Strukturen leisten. Der Verwaltungsaufwand pro Netzteilnehmer beträgt in Frankreich nur ein Drittel der Kosten, die in Deutschland anfallen. Hier sind dringend politische Reformen nötig, die Strukturen müssen wir aufbrechen.“
Technologie günstig nutzen, anstatt alles selbst herzustellen.
Das Beispiel der Solarindustrie zeige zudem auch, warum noch lange nicht klar sein müsse, wer am stärksten von KI profitieren könne. Denn obwohl China mittlerweile den Solarmarkt weltweit dominiere, verdienten chinesische Anbieter kaum Geld, da sie aufgrund des enormen Wettbewerbs zum Teil unter Kosten produzierten. Die Anwender in Europa und dem Rest der Welt zögen dagegen den größten Nutzen aus der Technologie. Für Diess liegt hier eine Blaupause für den Umgang mit KI: „Europa muss nicht alles selbst produzieren. Solange wir es schaffen, Wettbewerb im Markt zu erhalten, ist es möglich, dass am Ende nicht die USA oder die Anbieter von den Milliarden-Investitionen in KI profitieren, sondern die Kunden.“ Auch insgesamt seien Europa und Deutschland sehr gut aufgestellt, aus der Nutzung von KI Kapital zu schlagen: „Nehmen Sie nur das Beispiel der Sprachenvielfalt in Europa. Bisher stellte diese eine erhebliche Hürde bei einer engeren Zusammenarbeit dar. Mit KI wird dieses Problem in einigen Jahren verschwinden. Richtig gesteuert, kann die Technologie daher zu einem erheblichen Wettbewerbsfaktor für Europa und Deutschland werden.“
Diess resümiert: „Die Zeitenwende ist real. Aber sie ist nicht nur eine Bedrohung. Wenn wir mutig sind, Reformen vorantreiben und neue Technologien annehmen, ist diese Zeitenwende vor allem eins: eine große Chance für Deutschland und Europa.“
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