Zum Inhalt springen
Abnahme

Research und Märkte

„Der Investitionsstau ist enorm“

Der Bund investiert Milliarden in Ausbau und Erhalt von Straßen, Brücken und Schienen. Stefan Gerwens, Leiter des Ressorts Verkehr im ADAC, sagt jedoch: Das reicht noch nicht.

Oktober 2025

Interview mit Stefan Gerwens, Leiter des Ressorts Verkehr im ADAC.


Herr Gerwens, lassen Sie uns über die Straßeninfrastruk­tur reden. Herrscht in Deutschland ein Investitionsstau bei Straßen, Brücken und Tunneln – und wenn ja, wie groß ist er tatsächlich?

Es besteht ein enormer Investitionsstau, insbesondere bei Brücken­bauwerken. Allein auf den Autobahnen müssen in den nächsten Jahren rund 8000 Bauwerke erneuert oder teilweise ertüchtigt werden. Diese liegen aufgrund des Alters der Bauwerke und der Topografie vor allem im Westen und Süden von Deutschland. Aber auch im Netz der Bundes-, Landes- und vor allem der kommuna­len Straßen gibt es Tausende Brücken, die rechtzeitig ersetzt wer­den müssen. Wir sollten vermeiden, dass diese wegen mangelnder Tragfähigkeit für den Verkehr gesperrt werden müssen.

Der Bund plant Milliarden für Infrastruktur: Fließt das Geld nach Ihrer Einschätzung in die dringendsten Projekte?

Mit dem Sondervermögen wurden Milliardeninvestitionen ange­kündigt. Schlussendlich gibt es 2,5 Milliarden Euro pro Jahr für die Modernisierung der Autobahnbrücken aus dem Sondertopf. Für die Brücken dürfte dieser Ansatz zumindest in den nächsten zwei Jahren ausreichen. Insgesamt kommen bei der Straße über die nächsten Jahre jedoch nur 1,5 Milliarden Euro pro Jahr zusätzlich an, also eine Milliarde weniger. Denn gleichzeitig sollen die In­vestitionen für Erhaltungsausgaben im Kernhaushalt deutlich ge­senkt werden. Der zu geringe Anstieg wird voraussichtlich durch höhere Baupreise in den nächsten Jahren weitgehend aufge­braucht. Unter dem Strich kommt somit viel zu wenig vom Son­dervermögen bei den Fernstraßen an.

Viele Brücken sind marode – wie konnte es passieren, dass Deutschland als Exportweltmeister seine Verkehrsschlag­adern verfallen ließ?

Über Jahrzehnte hinweg wurde zu wenig in den Erhalt investiert und dabei auch bei den Brücken gespart. Hinzu kommt, dass ein Großteil der Brücken der Bundesfernstraßen zwischen 1960 und 1985 gebaut wurde. Sie sind nicht auf das heutige Aufkommen an Lkw-Verkehr ausgelegt, sodass die Lebensdauer der Brücken deutlich kürzer ist, als ursprünglich prognostiziert war. Heute wis­sen wir, dass die systematische Brückenmodernisierung nicht erst vor zehn Jahren, sondern deutlich früher hätten starten müssen.

Der Bundesverkehrswegeplan gilt als überladen und überbürokratisch – müsste er verschlankt werden, um schneller bauen zu können?

Ja, das wäre sinnvoll. Der Bundesverkehrswegeplan ermittelt, welche Investitionen für Fernstraßen, Schienenwege und Was­serstraßen des Bundes in den nächsten 10 bis 15 Jahren erforderlich sind. Darin enthalten ist der Finanzbedarf für die Er­haltung sowie für Neu- und Ausbauvorhaben. Der Bedarf im Bun­desverkehrswegeplan wird aber immer deutlich höher kalkuliert als die absehbaren Investitionsmittel im Bundeshaushalt. Deshalb fehlt es an Planungssicherheit, ob die Projekte umgesetzt werden. Hier würde eine stärkere Priorisierung mehr Klarheit für die be­troffenen Regionen bringen. Heute wird zu oft jahrzehntelang vergeblich auf die Entschärfung eines Engpasses gewartet. Das blockiert dann andere Lösungen.

Deutschland gilt als Land der Staus. Wo sehen Sie die größten Engpässe im Straßennetz – und was wären kurzfristig wirksame Lösungen?

Die meisten Staus gibt es in Nordrhein-Westfalen, aber auch Ba­den-Württemberg, Bayern, Niedersachsen und Hessen sind stark betroffen. Engpässe gibt es nicht nur in den Ballungsräumen, sondern auch auf vielen Autobahn-Fernstrecken. Neben dem klassischen Ausbau bestehender Autobahnen kommt in Ballungs­räumen vor allem der Einsatz der sogenannten temporären Sei­tenstreifenfreigabe infrage, um zu Zeiten hoher Verkehrsnachfra­ge den Standstreifen für den fließenden Verkehr freizugeben.

Klimapolitik und Infrastrukturpolitik prallen oft aufeinan­der: Muss Deutschland zugunsten der Mobilitätswende weniger Straßen bauen – oder eher mehr?

Im Schienennetz sind Engpässe zu beseitigen, um den Bahnverkehr Zuverlässiger zu machen und Kapazitäten für das erwartete Fahrgastwachstum zu schaffen. Trotz des Wachstums bei den Bahnen wird aber auch künftig der Großteil des Verkehrs auf der Straße abgewickelt werden. Bei allen Verkehrswegen muss abgewogen werden, wo noch Aus- und vor allem Neubau zwingend erforderlich ist, denn nicht nur die Nutzung, sondern auch der Bau der Verkehrswege ist mit CO2-Emissionen verbunden.

Der größte Hebel zur Erreichung der Klimaziele ist die Dekarbonisierung des Straßenverkehrs, also die Umstellung der Fahrzeuge auf alternative Antriebe und Energien.

Stefan Gerwens

Leiter des Ressorts Verkehr im ADAC

Wie bewerten Sie die Geschwindigkeit, mit der Infrastruk­turprojekte in Deutschland genehmigt und umgesetzt werden – und wo hakt es am meisten?

Die Planungs- und Genehmigungsverfahren, aber auch der Zeit­raum von der Erlangung des Baurechts bis zur Beendigung der Bauphase müssen kürzer werden. Die Verfahren in ihrer jetzigen Form sind zu komplex und dauern sehr lange. Andere Staaten sind da schneller. In den vergangenen Jahren sind hier einige Gesetzesänderungen erfolgt, die müssen jetzt im Verwaltungsalltag gelebt werden. Dafür braucht es auch Rückendeckung der Politik für die Behörden, auf optionale Verfahrensschritte verzichten zu können. Neben den Verfahren ist das derzeitige System der Infrastrukturfinanzierung mit seinen Unwägbarkeiten Ursache für In­effizienzen, Personalengpässe und Verzögerungen bei der Auf­tragsvergabe. Wenn erst Ende November verlässlich feststeht, wie viel Geld für Investitionen im Folgejahr zur Verfügung stehen wird, verzögern sich manche Projekte. Hier braucht es mehrjähri­ge Klarheit und die Bereitschaft der parlamentarische Haushälter, der Autobahn GmbH mehr Unabhängigkeit zuzugestehen, etwa durch die direkte Zuweisung der Einnahmen aus der Lkw-Maut.

Die Bauindustrie klagt über fehlende Fachkräfte und steigende Kosten. Wie realistisch ist es überhaupt, dass die angekündigten Milliarden in Beton und Asphalt umgesetzt werden können?

Die Kurzatmigkeit der Finanzierung ist das größte Problem. Nur wenn die Finanzmittel langfristig und dauerhaft auf hohem Ni­veau bereitgestellt werden, kann die Bauwirtschaft zusätzliche Kapazitäten aufbauen. Mit Planungssicherheit lassen sich auch Fachkräfte und junge Menschen für das Ingenieurstudium leich­ter gewinnen. Stabil höhere Investitionen schaffen Planungssi­cherheit am Arbeitsmarkt und in der Wirtschaft.

Wenn es um den Erhalt von Straßen geht, heißt es oft: „Sanierung vor Neubau“. Stimmen Sie dem zu – oder braucht das Land auch mehr neue Trassen?

Ja, diesem Grundsatz stimmt der ADAC zu. Die Folgen des Aus­falls von Brücken sind verkehrstechnisch für die Regionen gravie­render als ein verzögerter Neubau, so wünschenswert mancher Lückenschluss auch sein mag. Beim Ausbau lässt sich das nicht so einfach trennen. Wenn Brücken durch neue ersetzt werden, sind absehbare Verkehrszunahmen durch zusätzliche Fahrstreifen zu berücksichtigen. Das gilt dann aber ebenso für Streckenabschnit­te vor und hinter den Bauwerken.

Wie sollte der ADAC seine Rolle als Interessenvertretung der Autofahrer in dieser Debatte verstehen: Druck machen für mehr Straßenbau oder stärker für nachhaltige Mobili­tät eintreten?

Der Verkehr muss insgesamt seine Klimaziele erfüllen. Die größte Wirkung verspricht die Umstellung von Pkw- und Lkw-Verkehr auf alternative Antriebe und erneuerbare Energien. Darüber hin­aus muss die Bahn attraktiver werden, das gilt vor allem für den Fernverkehr. Das Verlagerungspotenzial ist jedoch begrenzt und die Straße wird langfristig mit Abstand der stärkste Verkehrsträ­ger bleiben. Vor allem der Lkw-Verkehr wird weiter zunehmen, während der Pkw-Verkehr das heutige Niveau halten wird. Des­halb kann auf den zielgerichteten Ausbau an Stauschwerpunkten nicht verzichtet werden.

Was wäre die wichtigste Reform, damit Deutschland bei Infrastrukturprojekten effizienter vorankommt?

Wir brauchen für die Infrastruktur eine dauerhafte Investitions- und somit Planungssicherheit, damit die Umsetzung von Projekten beschleunigt wird und die Bauwirtschaft Kapazitäten aufbauen und zusätzliche Fachkräfte ausbilden kann. Zudem sollten die komplexen Planungs- und Genehmigungsverfahren weiter verein­facht werden, und wir brauchen eine stärkere Priorisierung, wel­che Aus- und Neubauprojekte vorrangig zu realisieren sind.

Quelle: fondsmagazin

Weitere interessante Artikel