RESEARCH UND MÄRKTE
Wir alle sind bewegt von den Geschehnissen in der Ukraine. Viele Menschen machen sich Sorgen um die weitere Entwicklung im Krisengebiet, in Europa und in der Welt. Humanitäre Fragen und das Engagement für Frieden genießen in diesen Zeiten höchste Priorität. Als Wertpapierhaus der Sparkassen sehen wir uns aber auch in der Verantwortung, unsere Expertise zur Bewertung des Geschehens hinsichtlich seiner Auswirkungen auf die Finanzmärkte einzubringen. Auf dieser Seite veröffentlichen wir für Sie deshalb kontinuierlich aktualisierte volkswirtschaftliche Einschätzungen zur Lage und zur Entwicklung rund um den Russland-Ukraine-Krieg.
Der militärische Angriff Russlands auf die Ukraine und die anhaltenden Kampfhandlungen bewegen nun schon seit über zwei Monaten die Menschen und die Märkte. Wesentliches Ziel der russischen Führung ist offenbar eine Destabilisierung der politischen Struktur der Ukraine sowie eine Erweiterung ihres militärischen Einflussbereichs. Nachdem sich die russischen Truppen aus dem Norden der Ukraine zurückgezogen hatten, hat eine Großoffensive im Osten des Landes begonnen. Die laufenden Verhandlungen haben bislang keine nennenswerten Fortschritte in Richtung einer Waffenruhe gebracht.
Der Westen hat auf den Angriffskrieg mit massiven Wirtschaftssanktionen gegenüber Russland reagiert: persönliche Sanktionen gegen die russische Führungs- und Wirtschaftselite einschließlich Präsident Putin; weitreichende Exportbeschränkungen für Hochtechnologiegüter wie Halbleiter, Flugzeugteile, Ölförderausrüstungen sowie Luxusgüter; Sperrung der Häfen und Lufträume in Europa und den USA für russische Fluggesellschaften und Schifffahrt; Stopp des Zugangs zahlreicher russischer Unternehmen zur internationalen Finanzierung; Abschneiden des Zugangs zu Hartwährungs-Transaktionen und zum Zahlungsnachrichtensystem SWIFT für einige große russische Finanzinstitute. Nach der Blockade des Großteils der Währungsreserven der russischen Zentralbank hat Russland massive Kapitalverkehrskontrollen eingeführt. Die Kombination aus Kapitalverkehrskontrollen und dem Sanktionsregime macht es für den russischen Unternehmens- und Bankensektor sowie für den Staat technisch schwierig, den Schuldendienst gegenüber den ausländischen Gläubigern zu leisten. Die Zahlung der April-Fälligkeiten auf US-Dollar-Staatsanleihen, die ursprünglich in russischen Rubel geleistet worden war, wurde nach Angaben der Zentralbank nun in Devisen nachgeholt, sodass es dem russischen Staat wohl vorerst gelingen dürfte, der formellen Feststellung eines Zahlungsausfalls zu entgehen. Die Rating-Agenturen haben ihre Bonitätseinschätzungen in Bezug auf den russischen Staat und andere in Russland ansässige Emittenten aufgrund der europäischen Sanktionen eingestellt. Zahlreiche Unternehmen verzichten inzwischen auf Geschäftsbeziehungen zu Russland, selbst wenn ihr Geschäftsbereich (noch) nicht unter das bestehende Sanktionsregime fällt. Die russische Zentralbankchefin hat die russische Bevölkerung darauf eingestimmt, dass die Sanktionsfolgen substanzielle wirtschaftliche Einschränkungen bringen dürften. Ein Importstopp russischer Kohle wurde ins fünfte Sanktionspaket der EU aufgenommen. Während in der EU noch über den Vorschlag der Kommission zu einem Ölembargo im Rahmen des sechsten Sanktionspakets gegen Russland verhandelt wird, haben die G7-Länder das Ende der russischen Ölimporte beschlossen. Am umstrittensten bleibt die Einbeziehung von Erdgas. Partielle Energieembargos erhöhen die Wahrscheinlichkeit einer baldigen Unterbrechung aller Energieexporte Russlands: Ende April hat Russland bereits die Erdgaslieferungen nach Polen und Bulgarien eingestellt, nachdem die beiden Länder die geforderten Rubel-Zahlungen verweigert hatten. Die Versorgung Westeuropas mit vielen wichtigen Rohstoffen (u.a. Aluminium oder Palladium) ist beeinträchtigt. Die Sanktionen und Gegensanktionen bringen deutsche Schlüsselbranchen wie die Automobilindustrie oder den Maschinenbau immer mehr in Bedrängnis.
Die Folgen des Rohstoffpreisschocks, vermehrte Schwierigkeiten bei der Beschaffung von Rohstoffen und Vorleistungsgütern sowie eine Verunsicherung von Investoren und Konsumenten bremsen das Wachstum in Deutschland. Nach dem dramatischen Preisschock, der die erwartete Nach-Corona-Erholung im zweiten Quartal größtenteils aufzehren dürfte, könnte der Sommer etwas entspannter laufen. Doch spätestens mit Beginn der Heizperiode dürften neue Belastungen aufgrund der hohen Energiepreise auftauchen. Die Inflationsrate in Deutschland wird wohl noch länger auf einem sehr hohen Niveau verharren. Noch wenig einschätzbar sind die langfristigen Konsequenzen der veränderten Sicherheitslage in Europa. Kriege zur Durchsetzung von nationalen Zielen sind wieder vorstellbar geworden. Das hat Auswirkungen auf viele Politikbereiche. Aspekte wie höhere Rüstungsausgaben, eine neue Energiearchitektur für Europa sowie die Signalwirkungen in den asiatischen Raum werden zu langfristigen Verschiebungen führen. Dies alles dämpft die globalen Wachstumsaussichten, führt aber nicht zu Szenarien wie einer länger anhaltenden globalen Stagnation.
Nach den anfänglich scharfen Ausschlägen an den Finanzmärkten haben sich diese zum Teil wieder zurückgebildet. Die Unsicherheit insbesondere für die europäischen Märkte und die damit verbundenen ungewöhnlich hohen Kursschwankungen dürften jedoch noch eine ganze Weile anhalten. So könnte der Deutsche Aktienindex DAX durchaus im Extremfall für kurze Zeit auf Werte bis zu 11.500 bis 12.000 Punkte absacken. Technisch getriebene Erholungsbewegungen sowie zwischenzeitliche hoffnungsstiftende Nachrichten lassen aber auch immer wieder die Risikobereitschaft an den Märkten steigen. Russische Aktiva leiden am meisten unter den Ereignissen. Ihre Wertentwicklung und Handelbarkeit bleibt auf lange Frist unsicher, und sie wurden aus den wichtigen Aktien- und Anleiheindizes ausgeschlossen. Für die weltweiten Aktienmärkte erwarten wir im Jahresverlauf 2022 eine Erholung, sodass eine Änderung der langfristigen Anlagestrategie als Reaktion auf den Russland-Ukraine-Konflikt weiterhin nicht angezeigt ist. Alle diese Prognosen basieren nicht zuletzt auch auf unserer Hoffnung, dass in Europa bald wieder Frieden einkehrt.
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