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„Die Luft am Arbeitsmarkt wird dünner"

Auch wenn die kommende Rezession den Fachkräftemangel vorübergehend etwas dämpfen mag: Für Unternehmen wird es immer schwieriger, Arbeitskräfte zu finden. Professor Enzo Weber vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) ist einer der profiliertesten Experten für den deutschen Arbeitsmarkt und erklärt Gründe und Perspektiven, die Chancen durch Zuwanderung oder längere Lebensarbeitszeiten – und warum sich das Problem nicht komplett wegdigitalisieren lässt.

Oktober 2022

Das Interview mit Professor Enzo Weber führte Peter Weißenberg


Wird der Kampf um Arbeitskräfte von der Top-Wissenschaftlerin bis zum ungelernten Arbeiter noch härter, wenn die Wirtschaft wieder stärker in Schwung kommt?

Die Situation ist jetzt schon ziemlich hart. Im Moment ist zwar Energiekrise, aber in fast allen Branchen wird ohne Ende Personal gesucht. Darum haben wir derzeit fast zwei Millionen offene Stellen. Insgesamt wird der Arbeitsmarkt immer enger.

Woran liegt das?

Nicht nur, aber vor allem am demografischen Wandel. In Deutschland gibt es derzeit ein Arbeitskräftepotenzial von rund 48 Millionen Menschen, 45 Millionen sind derzeit erwerbstätig. Aber ohne Zuwanderung wird dieses Reservoir an Arbeitskräften bis 2030 um fünf Millionen Menschen schrumpfen. Dabei gibt es durchaus auch noch Potenziale im Inland, die man heben kann.

Wo denn zum Beispiel?

Bei älteren Mitarbeitern haben wir bereits viel herausgeholt. Noch in den 1990ern wollten viele Unternehmen die Älteren meistens einfach nur loswerden. Das hat sich komplett gedreht. Dass Ältere länger arbeiten wollen und können, hat natürlich auch damit zu tun, dass wir inzwischen unter den Arbeitskräften rechnerisch gesehen mehr Akademiker haben. Die arbeiten im Schnitt eben bis in höhere Alter als beispielsweise ein Dachdecker, der über Jahrzehnte Wind und Wetter ausgesetzt war.

Bei der Beschäftigung von Frauen gibt es wahrscheinlich auch noch Potenzial. Meist sind es ja immer noch sie, die wegen des Nachwuchses die Karriere unterbrechen oder auf Teilzeit reduzieren. Brauchen wir noch mehr Kitas?

Nicht überall – die neuen Bundesländer sind da schon ziemlich flächendeckend ausgestattet, Länder wie Bayern aber hinken nach wie vor erheblich hinterher. Und gerade in Süddeutschland gibt es ja auch kein Arbeitskräftepotenzial mehr aus der Arbeitslosigkeit.

Weil es etwa in Bayern und Baden-Württemberg kaum noch Arbeitssuchende gibt?

Ja. Bundesweit liegt die Erwerbslosenzahl ja bei rund 5 bis 6 Prozent. Und von Vollbeschäftigung reden wir bei 2 bis 3 Prozent, da ist also rechnerisch noch ungefähr eine Million an Arbeitskräftepotenzial vorhanden. Auch bei den Minijobbern gäbe es noch Möglichkeiten. Denn die sind ja oft, etwa als Rentner, in Bereichen tätig, die nicht ihrem Fachwissen entsprechen. Wenn wir die auch im Alter noch besser einsetzen könnten, würde das dem ganzen Arbeitsmarkt erheblich helfen. Aber selbst mit dem gesamten Potenzial des inländischen Arbeitsmarktes ist das Problem nicht zu lösen. Wir brauchen deutlich mehr Zuwanderung.

Das ist aber wahrscheinlich nicht leicht, denn alternde Gesellschaften gibt es genauso in Süd- wie in Osteuropa.

Stimmt genau. Darum brauchen wir eine offene Zuwanderungspolitik, die deutlich über die Grenzen der EU hinausgeht. Dazu soll es ja noch in diesem Herbst ein Bundesgesetz geben.

„Es geht mehr darum, Arbeitszeiten selbst anpassen zu können und mobil zu arbeiten.“

Professor Enzo Weber vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung
Bildquelle: Wolfram Murr, Photofabrik; deka.de/fondsmagazin

Was ist dabei für Sie aus Expertensicht der wichtigste Schritt?

Die Anerkennung von Abschlüssen ist die größte Hürde, um mehr Menschen nach Deutschland zu bringen – und zwar von der Pflegekraft über das Handwerk bis zu Berufstätigen mit Studienabschluss. Generell sollten wir den Menschen auch anders begegnen.

Was verstehen Sie darunter?

Zum Beispiel: Lassen wir Fachkräfte doch erst einmal ins Land hinein, wenn sie einen Job in Aussicht haben. Auch wenn dann die Sprachkenntnisse oder einzelne Ausbildungsschritte noch nicht dem deutschen Standard entsprechen, kann das meist während der Arbeit nachgeholt werden. Und den Unternehmen hilft das sofort. Wir brauchen einfach einen Migrationssaldo von 400.000 Menschen, um die Verluste im Arbeitsmarkt aufzuhalten.

Im Dienstleistungssektor fällt der Mangel an Arbeitskräften besonders auf. Ist das wirklich eine Problembranche – oder merken wir das geschlossene Restaurant nur besonders schnell?

Davon sollte man sich nicht täuschen lassen. Zwei Jahre hat es eine große Lücke durch die Coronaeinschränkungen gegeben. Die große Flucht aus der Gastronomie ist ohnehin ein Märchen.

Sicher?

Ganz sicher. Wir haben das genau untersucht. Natürlich gibt es jetzt nach den Schließungen in der Coronazeit Schwankungen und Probleme bei der Neubesetzung. Aber grundsätzlich haben während der Pandemie 28 Prozent weniger Beschäftigte die Gastronomie verlassen als zuvor.

Welche Branchen oder Firmen sind besonders betroffen?

Das Problem des Arbeitskräftemangels geht inzwischen quer durch die Branchen und weit über die klassischen Problembereiche Soziales, IT oder Handwerk hinaus. Bei den Unternehmen merkt man, dass sich kleinere Unternehmen schwerer tun als große Firmen, Arbeitskräfte zu gewinnen.

Woran liegt das?

Weil sich die Großunternehmen häufig ihre Arbeitskräfte direkt aus dem Ausland beschaffen können. Und grundsätzlich haben sie eine größere Reichweite, was die Anziehungskraft für Bewerberinnen und Bewerber betrifft. Die kleinen und mittleren Unternehmen versuchen dagegen verstärkt, ihre Mitarbeitenden länger zu halten. Auch Nachqualifizierung ist da ein wichtiges Mittel. Es ist einfach extrem sinnvoll, mehr aus dem bestehenden Personal zu machen. Das ist auch gerade im Zuge der Transformation für die gesamte Wirtschaft wichtig.

Was meinen Sie damit?

Nehmen Sie mal das Beispiel der Energiewende: Da hat unser Institut errechnet, dass wir rund 400.000 zusätzliche Fachkräfte meist im Handwerk benötigen, um die Ziele aus dem Koalitionsvertrag der Bundesregierung umzusetzen. So viele Handwerker werden hierzulande aber gar nicht ausgebildet.

Dabei war doch vor ein paar Jahren noch immer die Rede davon, dass wir eher mehr Akademiker brauchen. Jetzt klagen viele, dass junge Menschen zu oft studieren. Was stimmt denn nun?

Das Gerede von der Überakademisierung ist Unsinn. Akademiker haben im Schnitt die niedrigste Arbeitslosigkeit und die höchsten Lebenszeitgehälter. Wir müssen aber eben auch die nichtakademischen Ausbildungen attraktiver machen – und natürlich müssen auch die Unternehmen selbst etwas dafür tun.

Also mehr Geld zahlen?

Ja, aber am Geld alleine liegt es nicht. Es geht eben auch um Dinge wie individuelle Arbeitszeitflexibilität.

In der Öffentlichkeit ist von Work-Life-Balance oder New Work als zentralem Anliegen des Nachwuchses die Rede. Flaut der Hype ab, wenn die Bezahlung stimmt?

Es geht mehr darum, Arbeitszeiten selbst anpassen zu können und mobil zu arbeiten. Gibt es im Beruf zu wenig Entwicklungsmöglichkeiten, sind Familie und Beruf zu wenig miteinander vereinbar, oder ist der Arbeitgeber zu zurückhaltend bei Gleitzeit oder Homeoffice-Angeboten? Dann wird er Schwierigkeiten haben, Personal zu finden oder zu halten.

Dachdecker und Homeoffice ist aber etwas schwierig.

Klar. Und in sehr belastenden Berufen werden sie weiterhin Probleme haben, ausreichend Personal zu finden, wenn die Bezahlung nicht sehr gut ist. Aber auch bei Schichtarbeit ist es nicht unmöglich, größere Flexibilitäten zu erzielen. Und ein Dachdecker muss nicht mit über 50 noch zwingend auf dem Dach arbeiten. Da kommt es auf die Arbeitsverteilung je nach Möglichkeiten und Ausbildung an – also auf den Unternehmer und seine Fähigkeiten, das Personal optimal einzusetzen.

Deutsche Arbeitgeber schlagen schon die Rente mit 70 vor. Ist längeres Arbeiten für die Wirtschaft unerlässlich?

Wir müssen jetzt erst mal flächendeckend bei der Rente mit 67 ankommen, und die gegenwärtige Regierung wird sicherlich keine Verlängerungen beschließen. Entscheidend ist doch, dass wir Konzepte haben, wie wir Menschen mit weniger Belastung auch in einem höheren Alter noch produktiv beschäftigen können und wie wir sie rechtzeitig in die Richtung dieser Tätigkeiten qualifizieren. Und diese Beschäftigungen müssen dann so attraktiv sein, dass die Mitarbeitenden das gerne tun.

Haben Sie selbst Lust, bis 70 oder länger zu arbeiten?

Diese ganze Fixierung auf ein bestimmtes Jahr ist total kontraproduktiv. Das ist eine Holzhammer-Debatte, die abschreckend und demotivierend wirkt. Es sollte nicht darum gehen, länger arbeiten zu müssen – länger arbeiten wollen ist der Königsweg. Und da müssen wir Wege finden, den Übergang in den Ruhestand attraktiv und fließend möglich zu machen, wenn Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer nicht mehr 100 Prozent ihrer Kraft geben können oder wollen.

Gerade flüchten wieder viele Menschen aus der Ukraine nach Deutschland. Ist das so eine Chance für den Arbeitsmarkt – oder eher eine Belastung?

Das kann einen signifikant positiven Effekt haben. Denn die Qualifikationen sind oft gut. Die Sprache ist natürlich eine Hürde – da muss man investieren, auch berufsbegleitend. Auch bei der Kinderbetreuung müssen wir da einiges leisten. Generell ist der sogenannte Spurwechsel bei Asylbewerbern ein guter Ansatz. Denn das Wechseln in einen regulären Zuwanderungsprozess ist besser, als lange Zeit dem Arbeitswilligen eine Hängepartie zuzumuten.

Wer als Flüchtender ins Land kommt, bringt oft nur seine Habe am Leib mit sich. Ist die deutsche Jugend so gesehen dagegen eine goldene Generation – angesichts Personalmangels und der Aussicht auf ererbten Wohlstand?

Corona, Energiekrise, globale Verwerfungen – leicht haben es die Jungen heute nicht. Und allein auf die stattliche Rente können sie auch nicht bauen. Außerdem erbt nicht jeder gleich ein Vermögen. Aber in der Tat: Arbeitskräfte sind gefragt, und da haben die Jugendlichen heute schon sehr gute Karten. Wobei nicht alles Gold ist, was glänzt. Wir haben andererseits auch einen großen Niedriglohnbereich aufgebaut.

Werden einige Begüterte fast nur noch zum Spaß arbeiten müssen – und andere sich vergebens nach den besten Jobs strecken?

So hoch würde ich das Problem nicht hängen. Im Normalfall spielt bei Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern immer noch das eigene Einkommen die wesentliche Rolle, und die Löhne sind in der ganzen Breite in den letzten Jahren angestiegen. Auch der Mindestlohn steigt gerade kräftig, und die Hilfskräfte werden inzwischen knapp, was für deren Lohnniveau natürlich gut ist.

Apropos Hilfskräfte: In der vierten industriellen Revolution setzen die Unternehmen auf Automatisierung und Digitalisierung bei einfachen Tätigkeiten – aber auch mehr und mehr bei anspruchsvollen. Brauchen wir überhaupt noch so viele Arbeitskräfte?

Ja. Nach allen Studien ist klar zu erkennen: Manche Jobs werden wegfallen, aber auch diese industrielle Revolution schafft wieder neue Berufsbilder und Arbeitsfelder, neue Einkommen und Nachfrage. Wie jede Transformation zuvor. Die meisten Berufsbilder von vor 100 Jahren gibt es heute auch nicht mehr, und dennoch haben wir so viele Erwerbstätige wie noch nie zuvor. Die Arbeitskräfteknappheit und der demografische Wandel lassen sich jedenfalls nicht einfach komplett wegdigitalisieren.


Quelle: fondsmagazin

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